Asperger-Syndrom

Wer das Wort bzw. die Diagnose »Autismus« hört, sieht meist ein Kind vor sich, das – vollkommen in seine eigene Welt abgetaucht – immer wieder die gleichen Tätigkeiten und automatisierten Bewegungen ausführt. Ein Kind, das bei Berührungen mit reflexartigen Abwehr-Affekten antwortet und zuweilen mit heftigen aggressiven und autoaggressiven Handlungen reagiert. In diesen Fällen spricht man vom »Kanner-Autismus«, einem primären Autismus, der eine tiefgreifende Entwicklungsstörung darstellt. Oft findet auch die Definition »Frühkindlicher Autismus« Anwendung (auch wenn diese Autisten bereits erwachsen geworden sind).

 

Das bei Autisten auftretende Phänomen »Savant-Syndrom«, eine überdurchschnittliche und nahezu spektakuläre Begabung (»Inselbegabung«) auf einem speziellen Gebiet, zum Beispiel ein fotografisches Gedächtnis, kommt nur sehr selten bei Autisten vor, prägt aber das Bild, das sich Nichtbetroffene allgemein von Autisten machen. Filme wie »Rain Man« (1988, MGM Home-Entertainment) verstärken diese verzerrte Vorstellung. Das Vorbild für den autistischen Raymond Babbitt in dem Film war Kim Peek. Kim Peek (* 11. November 1951 in Salt Lake City, Utah; † 19. Dezember 2009 ebenda) dürfte zu den bekanntesten »realen« Savants zählen. Infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung (beide übermäßig großen Gehirnhälften waren nur minimal miteinander verbunden) war er in der Lage, den Inhalt zahlreicher Bücher auswendig zu lernen. Es war ihm darüber hinaus möglich, mit dem rechten und dem linken Auge zeitgleich je eine Buchseite »einzuscannen«.

 

Er konnte in sekundenschnelle Stadtpläne der ganzen Welt speichern und »abrufen« und es gelang ihm mühelos, zu jedem beliebigen Datum aus der Vergangenheit oder der Zukunft den jeweiligen Wochentag zu benennen. Trotz (oder wegen) dieser im wahrsten Sinne des Wortes »phänomenalen« Fähigkeiten scheiterte er an der Alltagsbewältigung und musste zeitlebens Hilfe in Anspruch nehmen.

 

Die Störungen aus dem Autismus-Spektrum und insbesondere auch das Asperger-Syndrom sind wesentlich häufiger als lange Zeit angenommen. In den 1980er Jahren ging man von einer Prävalenz von 4 : 10 000 aus, moderne Studien hingegen sprechen von einer Prävalenz von ca. 1 : 100 für das gesamte Autismus-Spektrum und ca. 1 : 250 für das Asperger-Syndrom. Dies hat in erster Linie damit zu tun, dass heute auch vergleichsweise milde Formen des Autismus erkannt und diagnostiziert werden.

 

Schon der Wiener Kinderarzt Hans Asperger (1906 – 1980), der die Leitsymptome des Syndroms erstmals beschrieb, wies darauf hin, dass es einen fließenden Übergang bis zur »Normalität« gibt. Er wusste bereits schon damals, dass es sich um einen lebenslangen Persönlichkeitstypus handelt und dass die Störung deshalb im Erwachsenenalter nicht seltener vorkommt als im Kindesalter. Allerdings haben Erwachsene viel mehr Möglichkeiten, an ihren Schwierigkeiten zu arbeiten und so »nach außen« hin kaum aufzufallen, was aber andererseits zu einem Dilemma führen kann.

 

Insofern gibt es den »Asperger« nicht, ebenso wenig wie den Autisten. Die Ausprägungen der Auffälligkeiten unterscheiden sich bei jedem Betroffenen hinsichtlich Quantität und Qualität. Die Frage, ob Autismus und das Asperger-Syndrom den psychischen Störungen zuzuordnen, oder als besondere Varianten der Informationsverarbeitung zu werten sind, wird von Wissenschaftlern verschiedener Fachbereiche bislang uneinheitlich beantwortet. Vieles aber spricht für die zweite These. Auffällig ist, dass mehr Jungen als Mädchen Symptome aus dem Autismus-Spektrum entwickeln.

 

Das »Asperger-Syndrom« (AS) ist eine mildere Form des Autismus, weshalb es den »Störungen innerhalb des Autismus-Spektrums« zugerechnet wird. Ein »Asperger« fühlt seine Andersartigkeit, hat aber gelernt, diese Abweichung durch komplizierte Mechanismen und Strategien vor seinen Mitmenschen zu verbergen, zum einen, um nicht auffällig zu sein, zum anderen, um sein »gesellschaftliches Unvermögen« nicht zu zeigen. Für dieses Ziel zahlt er einen hohen Preis: Die größtenteils unbewusst ablaufende Verleugnung der eigenen Persönlichkeit und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse führt früher oder später zu massiven Problemen, so wie jedwedes Verdrängen oder Verleugnen eigener Bedürfnisse bei fast allen Menschen letztlich zu Problemen führt.

 

An dieser Stelle: Manche »Asperger« bezeichnen sich selbst als »Aspie«, einige Autisten als »Autie«. Ich lehne diese Begriffe für Menschen mit autistischen Auffälligkeiten grundsätzlich ab. Der oftmals erhebliche Leidensdruck vieler »Asperger« lässt solche Verniedlichungen mehr als unpassend erscheinen. Kein Diabetiker nennt sich »Diabeti«, kein Mensch, der unter rheumatischen Beschwerden leidet, bezeichnet sich als »Rheumi«.

 

Ein weiterer Grund für diese Anstrengung ist das Wissen um seine Verletzbarkeit und hochgradige Sensibilität. Der introvertierte »Asperger« ist ein einsamer Querdenker, möchte nicht auffallen und seine Schwächen nicht zeigen. Er muss lebenslang lernen, wie »man« reagiert, wie »man« spricht und handelt. Er reproduziert im Alltagsleben das, was er sich von seinen Mitmenschen »abgeguckt« hat. In den meisten Bereichen vermag er deshalb nahezu unauffällig zu »funktionieren«.

 

Er lebt demzufolge mit seinen massiven Problemen hinter einer Fassade, die er nur durch großartige, aber strapaziöse Schauspielkunst aufrechterhalten kann. Er steht auf einer Bühne, spielt eine eingeübte Rolle, trägt ein Kostüm, in dem er sich nicht wohlfühlt, und ist sein eigener Souffleur. Symptomatisch sind in erster Linie seine Probleme mit dem zwischenmenschlichen Kontakt. Infolge seiner Schweigsamkeit und seiner mitunter »hölzernen« Art wird er von vielen Menschen nicht wahrgenommen oder verkannt. Menschen mit dem Asperger-Syndrom denken stumm und machen sich ihre Gedanken – und das annähernd pausenlos! Wie anstrengend das für sie ist, können Nichtbetroffene kaum nachempfinden.

 

Der Umgang mit anderen Menschen stellt den sensiblen »Asperger« immer wieder vor große Herausforderungen, weshalb er Gesellschaften nach Möglichkeit meidet und permanent Strategien entwickelt, die ihm Interaktionen mit seinen Mitmenschen ersparen oder planbar machen. 

 

Ihm fehlt das Gespür für gesellschaftliche Normen, was mitunter zu befremdlichen Situationen führt.

 

Für die meisten Menschen kommt der »Asperger« zu direkt »zur Sache« und kann als übergriffig erlebt werden.

Small Talk hält er für völlig überflüssig.

 

Den meisten Menschen mit »AS« ist es unangenehm, wenn man ihnen direkt in die Augen schaut.

 

Ein Blick über die Schulter oder auf die Nasenwurzel wird von ihnen deutlich angenehmer empfunden. Außerdem vermeiden sie körperliche Berührungen und reichen zur Begrüßung nur ungern die Hand. Sie bevorzugen einen etwas größeren Abstand zwischen sich und ihrem Gegenüber als allgemein üblich. Wird der »Sicherheitsabstand« unterschritten, wird er vom »Asperger« mehr oder minder wieder hergestellt. Oft werden sie deshalb als »kühl« und arrogant beschrieben, wobei es sich aber um eine Fehlinterpretation ihrer Ängstlichkeit und Unsicherheit handelt.

 

Belanglosem Small Talk vermag der »Asperger« zumeist weder eine Sinnhaftigkeit noch eine Logik oder einen Unterhaltungswert zuzuweisen, soziale Spielregeln, über die Nichtbetroffene intuitiv verfügen, sind ihm nicht eigen. Allenfalls kann er sie auswendig lernen und »nachspielen«. Mit diesen antrainierten Strategien gelingt es ihm teil- und zeitweise, wenn auch äußerst mühsam, sich dem Alltag zu stellen. Vielen »Aspergern« fehlt auch die Fähigkeit zur Deutung allgemein gängiger Redensarten. Diese Redewendungen werden manchmal »im wahrsten Sinne des Wortes« verstanden und interpretiert, was sehr oft zu Problemen und Missverständnissen führt und den »Asperger« in eines der überall bereitstehenden sprichwörtlichen »Fettnäpfchen« treten lässt. Und davon gibt es sehr viele in der »Umgangssprache«. »Ein Hühnchen mit jemandem zu rupfen« bedeutet eben nicht zwingend den Anfang einer hausgemachten Hühnersuppe! Erst wenn man explizit darauf achtet, wird deutlich, mit wie vielen Redewendungen dieser Art (für Menschen mit »AS« die reinsten Stolperfallen) unsere Umgangssprache angereichert ist.

 

Gespräche über das Wetter, sofern sie nicht von wirklich meteorologischem Belang sind, vermag der »Asperger« nicht sonderlich zu schätzen, wenn sich der über das Wetter »plaudernde« Gesprächspartner in unmittelbarer Nähe des »Aspergers« befindet, also dem gleichen Wetter ausgesetzt ist. Und er begreift ebenso wenig, wieso auf das mechanisierte »Wie gehts?«, das als Gesprächsöffner genutzt wird, nicht wirklich ein medizinischer Zustandsbericht erwartet wird.

 

Der »Asperger« benötigt kein »Warm-up« und kann deshalb auch das Bedürfnis seines Gegenübers danach nicht teilen. Er schätzt eher »klare Ansagen«. Aus dieser Eigenschaft resultiert eine Offenheit und eine wohltuende und zuweilen entwaffnende Ehrlichkeit des »Aspergers«, die Menschen, die seine Wesensart akzeptieren können, durchaus zu schätzen wissen. Andererseits neigen »Asperger« selbst zu komplizierten Wortspielen und außergewöhnlichen Gedanken, denen Nichtbetroffene meist kaum folgen können (oder sollen).

 

Auch Ironie und Sarkasmus sind Menschen mit »AS« nicht fremd. Und sie verstehen diese Mittel auch anzuwenden. Der überwiegende Teil der »Asperger« ist auch durchaus in der Lage, verborgene Botschaften und Hinweise wie ein Seismograf »zwischen den Zeilen« zu lesen, wobei sie jedoch nicht immer das Richtige treffen, bzw. verborgene Informationen lesen, wo in Wirklichkeit gar keine zu lesen sind.

 

In einem Supermarkt beobachtete ich folgende Begebenheit: Ein junger, sehr großer Mann stand dort vor einem Regal mit Gebäck-Schachteln. Er hatte aufgrund seiner Körpergröße keine Mühe, einen Karton mit Keksen aus dem obersten Regal zu greifen. Neben ihm stand eine kleine, zierliche ältere Dame, die recht hilflos nach oben blickte und augenscheinlich dieselbe Kekssorte zu kaufen wünschte wie der junge Mann. Dies war für sie aber offensichtlich »unerreichbares« Unterfangen. Schließlich wandte sie sich an den jungen Mann: »Die Kekse stehen viel zu hoch. Aber ich liebe diese Kekssorte!« Der junge Mann antwortete: »Ja. Ich sehe schon. Ich weiß auch nicht, was die Geschäftsleitung sich dabei denkt«, und ging seiner Wege.

 

War der Mann unhöflich? Wenn es sich um einen »Asperger« gehandelt hat, dann sicher nicht. Er hatte die in der Äußerung der Dame enthaltene Bitte um Unterstützung nicht »gehört«, sondern ihre Äußerung als Sachstandsmeldung gewertet, der er letztlich auch zustimmte. Wenige Sekunden später kam der Mann zurück und nahm die Kekspackung für die verwirrt und betroffen dreinblickende Frau aus dem Regal und überreichte sie ihr: »Bitte!« Das verinnerlichte Übersetzungsprogramm im Kopf des Mannes hatte mit leichter Verzögerung doch noch gegriffen.

 

Der an einen »Asperger« gerichtete Satz: »Mir ist kalt!« oder gar »Ist dir nicht kalt?« führt nicht zuverlässig dazu, dass der solchermaßen Angesprochene beispielsweise ein Fenster schließt oder die Heizung höherstellt.

Eine noch viel größere Herausforderung als die Interpretation »versteckter Botschaften« in gesprochenen Sätzen ist für den »Asperger« die korrekte Deutung von Gefühlsregungen in den Gesichtern seiner Mitmenschen. Er sieht oder »spürt«, dass es seinem Gegenüber nicht gut geht, weiß aber nicht immer, wie er darauf angemessen reagieren soll, beziehungsweise, was von ihm erwartet wird.

 

Diese Eigenschaft ist ein erheblicher Störfaktor bei der Beziehungsbildung.

Ist einem Menschen mit »AS« ein Fehler unterlaufen, der mit einem sarkastischen: »Das hast du ja toll hinbekommen!« kommentiert wird, könnte diese Bemerkung ihn bei nächster Gelegenheit zur Wiederholung des Fehlers animieren, da er keine Veranlassung sieht, seine Handlungsweise infrage zu stellen oder gar zu ändern. Teilweise, weil er die eigentliche Botschaft nicht übersetzen kann, manchmal aber auch nur wegen des Unwillens, sich auf die »verkomplizierenden« und unnötigen Wortspielereien des Kritisierenden einzulassen. Das Leben eines »Aspergers« ist ohnehin mühsam genug. Die »Übersetzungsfähigkeit« und teilweise auch die »Übersetzungswilligkeit« derartiger Kommunikation (verbal und nonverbal) stehen deshalb grundsätzlich im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen »Sender und Empfänger«.

Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf den für Menschen mit autistischen Störungen notwendigen körperlichen »Sicherheitsabstand«. Erst mit zunehmendem Vertrauen zu einem anderen Menschen kann der »Asperger« diese Distanz in der Regel verringern. Die Akzeptanz berührt zu werden, erfolgt grundsätzlich sehr differenziert.

 

Der Hang zur Analyse, Zerlegung und Hinterfragung auch scheinbar harmloser Vorgänge, Erlebnisse und Äußerungen ist nahezu allen Menschen mit Asperger-Syndrom zu eigen und deshalb symptomatisch. »Asperger« sind in Gesellschaft permanent »online«, abgesehen davon, dass sie sich während ihrer Wachzeiten ohnehin in einem beständigen »Alarmzustand« befinden. Es fällt dem »Asperger« schwer, sich in dieser Welt der oberflächlichen Floskeln, Worthülsen, rhetorischen Phrasen und gesellschaftlich akzeptierten Notlügen zurechtzufinden. Und es ist für ihn mit immensen Anstrengungen verbunden, weshalb er in der Regel nur wenige intensive Freundschaften pflegt. Ursache hierfür ist eben auch eine äußerst komplizierte Nähe-Distanz-Problematik.

 

Bei aller Zurückhaltung und Vorsicht erweisen sich »Asperger« als sehr ehrliche und aufrichtige Freunde und Partner, wenn die Hürden, die während des Beziehungsaufbaus vom und zum »Asperger« genommen werden müssen, überwunden werden können. Und das stellt sich sehr oft als fast unmöglich dar.

Hier ist auf beiden Seiten Geduld und Verständnis erforderlich.

 

Der Satz: »Ich komme nächste Woche mal vorbei« wird vom »Asperger« nahezu als Bedrohung und Eingrenzung seiner Freiheit erlebt, sodass er sich dieser Bedrohung vermutlich entziehen wird. 

 

Allerdings neigen einige Menschen mit »AS« dazu, ihre Entscheidungen selbst »in letzter Minute« zu ändern, was ihnen den Ruf der Unberechenbarkeit einbringt, wobei sie selbst mitunter nicht zu definieren vermögen, aus welchen Gründen sie eine Entscheidung überstürzt ändern oder widerrufen.

 

Die meisten »Asperger« entwickeln zudem Rituale und Zwänge, deren Ausführung ihnen eine gewisse Berechenbarkeit und Sicherheit bei der Bewältigung des Alltags bieten. Hierzu gehören Zwangshandlungen (sortieren, ordnen und arrangieren) und Zwangsgedanken (Grübelzwang, Verharren bei einem Gedanken oder einer Idee). Die Ausführung dieser »Zwänge« nimmt einen von Außenstehenden als unangemessen erlebten (für »Asperger« aber notwendigen) langen Zeitraum in der Tages- und Lebensplanung ein.

 

Als Junge beschäftigte ich mich gerne stundenlang und allein mit meinen Modellautos. Aber nicht, um mit ihnen Verkehrssituationen nachzustellen oder »Unfälle« zu produzieren. Vielmehr sortierte ich meine Autos nach Farben, Modellen oder anderen Kriterien, stellte sie gedankenverloren in einer geraden Linie auf, nebeneinander, hintereinander oder nach einem in meinem Kopf erdachten Muster. Hatte ich dieses Ziel nach Stunden erreicht, arrangierte ich meinen kleinen Fuhrpark zu anderen, nur für mich logisch erscheinenden Formationen. Ich instrumentalisierte meine Modellautos, meine Gedanken zu beruhigen und zu »ordnen«. Aus den Modellautos sind inzwischen Kugelschreiber, Büroklammern oder andere mich jeweils umgebende Gegenstände geworden, das »Symptom« selbst begleitet mich nach wie vor.

 

»Asperger« neigen dazu, in Rituale, Routinen und Zwänge in Hinblick auf Handeln und Denken zu versinken, ohne dass es Ihnen immer bewusst wird. Unvorhersehbare Ereignisse oder plötzliche Veränderungen verunsichern sie. Andererseits erlaubt es ihnen diese Eigenschaft, sich einer Aufgabe akribisch zu widmen. Ihre Neigung, sich dabei in Details zu verlieren und sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, führt häufig zu außergewöhnlichen und innovativen Ideen und Ergebnissen. »Dank« dieser Fähigkeit ergibt sich zwangsläufig eine Unfähigkeit zum »Multitasking«.

 

Der Wunsch (oder Zwang) nach Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und Kontinuität führt bei einigen »Aspergern« sogar dazu, dass sie zum Beispiel jeden Tag das gleiche Mittagessen zu sich nehmen – möglichst immer gleich auf dem gleichen Teller arrangiert – oder alljährlich den gleichen Urlaubsort »wählen«. Manche bevorzugen stets den gleichen Kleidungsstil oder ähnlich rigide Strategien, die ihnen die »Qual der Wahl« ersparen, manchmal auch nur, weil sie Nahrungsmittel und Moderichtungen als zu unwichtig einstufen, um sich darüber Gedanken zu machen.

 

In ihrer Freizeit gehen »Asperger« gern ungewöhnlichen Interessen nach. Das kann beispielsweise das Sammeln von Fakten und Daten geschichtlicher Ereignisse sein. Auch die biografischen Daten von Persönlichkeiten können von Menschen mit »AS« mühelos und nahezu lückenlos gespeichert werden, sofern die betreffende Person ihnen interessant erscheint. Menschen mit AS erweisen sich deshalb innerhalb ihres »Fachgebiets« als sehr verlässliche Sachverständige. Aber nur selten tauschen sie ihr Wissen mit anderen aus.

 

Fühlen sie sich intellektuell unterfordert, stellt sich sehr schnell Langeweile und daraus resultierend geistige Abwesenheit ein. Sie »klinken« sich aus und sind dann in Gesellschaft lediglich körperlich anwesend. Die meisten »Asperger« verfügen über eine bemerkenswerte Affinität zu Zahlen und Formeln, demzufolge also Dingen, die einer Logik, Regelmäßigkeit, Nachvollziehbarkeit und Sachlichkeit unterliegen. Die Lern- und Merkfähigkeit in dieser Hinsicht ist zweifelsohne beeindruckend. Andere wiederum verfügen über ein sensibles Sprachempfinden.

 

In der Schule brachte ich meine Deutschlehrerin regelmäßig durch komplizierte Partizipialkonstruktionen zur Verzweiflung, aus denen selbst ich als Verfasser mitunter nur mühsam einen Weg herausfand. Auch mit scheinbar endlosen, über mehrere Seiten reichenden Schachtelsätzen vermochte ich meine Lehrerin nicht zu begeistern. Und das »Erfinden« von Neologismen gehörte im Unterrichtsfach »Aufsatz« schon damals zu meinen Leidenschaften, regelmäßig flankiert von roten Fragezeichen aus dem Federhalter meiner Lehrerin.

 

Annähernd alle »Asperger« sind mit verblüffenden kreativen Fähigkeiten und erstaunlicher Fantasie ausgestattet. Aber auch hier eher als Schaffende als in der Rolle passiver Konsumenten. Deshalb sollte man ihnen unbedingt die Gelegenheit geben, diese Eigenschaften zu entdecken und auszuleben.

 

Ich selbst habe zum Beispiel als »passiver Konsument« beim Anschauen von Spielfilmen das »Problem«, mich auf einen fiktiven Handlungsablauf einzulassen. In dem Spielfilm »Cast Away – verschollen« (2000, 20th Century Fox und DreamWorks) strandet der Schauspieler Tom Hanks in der Rolle als Chuck Noland nach einem Flugzeugabsturz als einziger Überlebender auf einer einsamen Insel und kämpft um sein weiteres Überleben. Mir ist aber klar, dass Tom Hanks von einem Kamerateam umgeben ist, ein Catering- Service für sein leibliches Wohl sorgt und auch sonst alles für seine Sicherheit während der Filmaufnahmen getan wird. Er ist eben keinesfalls einsam oder gefährdet. Da ich dieses »Hintergrundwissen« nicht ausblenden kann, verlieren für mich die meisten Spielfilme schon nach kürzester Zeit jeglichen beabsichtigten Unterhaltungswert.

 

Schon in der Schule sind »Asperger« in den Pausen lieber mit sich allein und suchen möglichst immer einen gleichen vertrauten Ort auf, an dem sie sich ihren Mitschülern entziehen und von der fortwährenden Reizüberflutung während des Unterrichts »erholen« können. Mit den harmlosen Spielen, den Scherzen und dem »Geplauder« der Mitschüler auf dem Schulhof können sie ohnehin wenig anfangen, und über die Witze der Mitschüler können sie nur selten lachen.

Der Schulsport gehört auch zu den Dingen, die für den überwiegenden Teil der »Asperger« eine Herausforderung darstellt. Der mangelnde Teamgeist beim sportlichen Wettstreit, der fehlende Ehrgeiz sowie der bei Mannschaftssportarten nicht zu vermeidende Körperkontakt und die für »Asperger« symptomatische stark verminderte Koordinationsfähigkeit im Bereich der Grob- und Feinmotorik, beispielsweise bei Ballspielen, lassen ihn auch in diesem Bereich unweigerlich zum Außenseiter werden.

 

Allzu »flache« Pointen oder Scherze können vom »Asperger« meist tatsächlich nicht entschlüsselt werden. Oft sind sie in solchen Fällen auf der gedanklichen Suche nach dem »eigentlichen« Witz, denn vieles, was an merkwürdigen, grotesken oder »verschrobenen« Situationen in Witzen für andere Menschen den »Witz« ausmacht, gehört für den »Asperger« in seiner »Asperger-Welt« zum Alltag. Unabhängig davon bin ich bislang noch keinem »Asperger« begegnet, der nicht über Humor verfügt hätte.

Dabei habe ich beobachtet, dass sich der »Asperger-Humor« sehr oft an die typischen Elemente des »britischen Humors« anlehnt (Wortspiele, Ironie, skurrile und bizarre Situationen und unerwartete Pointen). Meist ist er aber eher der Produzent eines Witzes oder einer skurrilen Situation als ein Reproduzierender. Freiwillig oder unfreiwillig. Angesichts der schon erwähnten eher statischen und ernsten Mimik werden seine durchaus gekonnten Scherze und als Spaß gemeinten Äußerungen von Nichtbetroffenen aber selten als solche erkannt. In diesem Zusammenhang:

Menschen mit »AS« werden oft schon aufgrund ihrer bereits erwähnten starren Mimik und sparsamen Gestik zu Unrecht als leidenschafts- und humorlos abgeurteilt.

 

Zudem reden sie in der Regel leise, wohlüberlegt und bedächtig und weisen eine eher flache Modulation ihrer Stimme auf. Das macht es für sie umso schwerer, sich »Gehör zu verschaffen«.

Grundsätzlich ist Menschen mit »AS« aufgrund ihrer speziellen Sensitivität vieles zu laut, zu hell, zu schnell und einfach zu »unordentlich« in dieser Welt.

 

Einige Menschen mit »AS« haben zudem ein eingeschränktes Körperempfinden, das ihnen nicht selten zum Verhängnis wird: Schmerzen, die als Warnhinweis oder erstes Symptom einer Erkrankung auftreten, werden häufig nicht »gespürt« oder »überspürt«. Es passiert deshalb, dass zum Beispiel Kälte oder Hitze nicht angemessen bewertet werden und deshalb nicht zu angemessenen Gegenmaßnahmen führen. In einigen Fällen kommt es durch ein Miss- oder Fehlempfindungen von Körpersignalen sogar zu schwersten Erkrankungen, Unfällen und sogar zu Todesfällen.

Naturgemäß erreichen Menschen mit Asperger-Syndrom bessere schriftliche Noten als mündliche. Vor der versammelten Klasse einen Vortrag zu halten, ist eine Aufgabe, die von den wenigsten »Aspergern« absolviert werden kann. Sie verfügen in der Regel über einen durchschnittlichen IQ, meist sogar darüber. Da aber die Fähigkeit, vor anderen Menschen zu sprechen, nicht nur in der Schul- und Ausbildungszeit, sondern auch im Beruf vorausgesetzt wird, kommt es vor, dass die wahren Fähigkeiten und Talente des »Aspergers« unterschätzt und unerkannt bleiben. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob der »Asperger« auf eine angemessene Anerkennung seiner Fähigkeiten und Stärken seitens seiner Mitmenschen letztlich überhaupt Wert legt.

 

Im »richtigen« Beruf sind sie oftmals sogar in der Lage, überdurchschnittliche Leistungen zu erbringen, sofern man ihnen Gelegenheit gibt, ihr Potenzial einzubringen. So sehr sie Vereine und Verbände meiden, so stark ist auch ihre Abneigung gegen Gruppenarbeit bzw. »Teamwork«. Sie stellt für sie die Höchststrafe dar. Darüber hinaus »scheint« der »Asperger« nahezu immun gegen Lob und resistent gegenüber Kritik zu sein. Lob stellt er infrage, Kritik kränkt ihn zutiefst, auch wenn sie objektiv berechtigt sein mag. Kritik wird weniger sachlogisch als persönlich gewertet. Schon diese Aspekte machen ihn nicht gerade zu einem produktiven Teil einer Arbeitsgruppe. Er kann sich zwar durchaus kollegial verhalten, lässt sich aber nur ungern in eine Gruppe integrieren. Zum einen wegen des Unvermögens, den automatisierten und »undurchsichtigen« Richtlinien und Ritualen einer Gruppe zu folgen, zum anderen aber auch schlicht aus mangelndem Interesse.

Er fühlt sich in der Rolle des Einzelkämpfers weitaus wohler und kann sich in dieser Position einer Aufgabe intensiv annehmen und sie akribisch und zuverlässig ausführen. Zeitdruck, häufige Unterbrechungen und Ablenkungen sowie allzu starre Durchführungsbestimmungen blockieren diese Fähigkeiten jedoch.

 

Autistische »Störungen« sind nicht korrigierbar. Die Wahrnehmung der Welt und die Beziehung zu anderen Menschen bleiben ein Leben lang »anders«.

 

Der fehlende Perspektivwechsel (Was denkt der andere? Wie fühlt sich der andere?) ist eine der Hauptursachen für die fehlende Integration in die Gemeinschaft. Auch die Störungen der Sinneswahrnehmung der Umwelt lassen ihn den »normalen« Alltag als überaus strapaziös erleben. Viele Betroffene leiden deshalb unter einer extrem empfindlichen Haut, Hör- und Sehstörungen oder einem gestörten Geruchssinn.

Nicht selten kommt es regelmäßig zum »Overload«. Deshalb wird das Asperger-Syndrom auch als »Wrong-Planet-Syndrom« bezeichnet. Und tatsächlich fühlen sich viele »Asperger« wie auf einem falschen Planeten lebend.

Einzelgänger, Außenseiter, Eigenbrötler, Sonderlinge ... Das sind noch die freundlichen Begriffe, mit denen »Asperger« zuweilen bedacht werden.

 

Die permanente Verkennung ihrer Fähigkeiten und die Nichtwahrnehmung ihrer teilweise hervorragenden Eigenschaften und Talente ebnen den Weg in die Isolation. Ob der »Asperger« letztendlich »ausgegrenzt wird« oder »sich selbst ausgrenzt«, ist indes nicht immer klar zu unterscheiden.

 

Ein oft auftretendes Erscheinungsbild bei Menschen mit »AS« ist eine »Gesichtsblindheit«: Eine Person, die sich nach einem kurzen Gespräch mit einem Menschen mit Asperger-Syndrom von diesem verabschiedet hat und wenige Minuten danach erneut erscheint, kann unter Umständen schon nicht mehr wiedererkannt werden. Das ist für den »Unerkannten« wenig schmeichelhaft. Hierbei handelt es sich aber nicht, wie oftmals unterstellt, um ein Unvermögen des Gedächtnisses, sondern um ein Wahrnehmungsproblem. Hätte die betreffende Person einen überdimensionalen Sombrero auf dem Kopf gehabt, wäre sie vom »Asperger« mühelos erkannt worden. Vermutlich hätte er die Person gerade wegen der ungewöhnlichen Kopfbedeckung erkannt, oder aber auch nur diese! Für ihn wäre es beispielsweise nicht »die Frau mit dem Sombrero«, sondern »der Sombrero mit der Frau darunter«.

 

Unzählige Eindrücke wirken nahezu ungefiltert auf den »Asperger« ein und müssen »sortiert« und verarbeitet werden. Aufgrund der permanent angewandten und überaus aufwendigen und überstrapazierten Kompensationsstrategien kommt es immer wieder zu extremen Erschöpfungszuständen, schweren Depressionen und Angst- und Zwangsstörungen. Daraus resultiert eine Neigung zum Rückzug, die schlimmstenfalls in die Einsamkeit führen kann. Einige »Asperger« wählen letztlich ganz bewusst diesen meist endgültigen Weg.

 

Dennoch, und entgegen vielen Meinungen, sind Menschen mit Asperger-Syndrom durchaus zu intensiven und langfristigen Beziehungen fähig, die aber dauerhaft störungsanfällig sind und unvorhersehbaren Zwischenfällen ausgesetzt sein können. Uneingeschränkte Offenheit, Verständnis, Authentizität und Respekt sind die Bausteine einer Beziehung zum »Asperger«. Er muss die Gewissheit haben, in einer engen Beziehung auf seine anstrengenden Strategien und Vorsichtsmaßnahmen verzichten zu können, seine Maske und seine Rüstung ablegen und erleichtert »aufatmen« zu können.

 

Die von der Norm abweichenden Denk- und Verhaltenseigenheiten des »Aspergers« müssen also einer ausgeglichenen Zweisamkeit nicht zwingend abträglich sein. Die Nähe zu Menschen mit Asperger-Syndrom wird auch durch Distanz hergestellt und aufrechterhalten, auch wenn »Nähe durch Distanz« wie ein Paradoxum klingt. Steht ihm zudem ein angemessener Freiraum zur Verfügung, eine Rückzugsmöglichkeit, ein Ort »in sich«, so steht einer harmonischen Verbindung zu einem Menschen mit »AS« nichts im Wege.

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© Rolf Piotrowski